Kennst Du Jesus?
Eine Frage, mit der zumindest ich eigentlich am ehesten freundliche Leute verbinde, die an meine Türe klingeln und mir mehr oder weniger gelungene Broschüren dalassen wollen. Es ist aber auch eine Frage, die ich mir jetzt selbst gestellt habe. Kenne ich Jesus? Wirklich?
Wann kenne ich jemanden? Ich treffe jeden Tag viele Menschen, mit manchen spreche ich länger oder kürzer, meistens beruflich doch indes manchmal auch privat. Von einigen davon würde ich behaupten, daß ich sie kenne. Ich weiß von der Kollegin, was sie in ihrer Freizeit macht, wie sie ihren Tee trinkt, welche Bluse sie zu welcher Hose gerne anzieht. Ich kenne ihre Art zu sprechen, sich zu bewegen und wie sie, vermutlich nicht gerade ergonomisch korrekt, mit einem untergeschlagenen Bein auf ihrem Bürostuhl sitzt. Wenn ich sie sehe kann ich auf einen Blick abschätzen, wie ihre Laune ist, ob es ihr gut geht oder nicht. Ich kenne sie.
Ich kenne auch ganz abstrakte Personen. Ich kenne Gregor Samsa aus Kafkas Verwandlung. Ich habe ihn bei der Lektüre des Buches kennengelernt ohne ihm als körperliche Person, die er ja nicht ist, je begegnet zu sein. Ich kenne Tom Sawyer und Huck Finn, ich kenne Granny Weatherwax und Nanny Ogg von Terry Pratchetts Scheibenwelt, ich kenne Dostojevskijs jungen Fürst Myschkin, diesen klugen Idioten, ich kenne Cyrano (die Figur, nicht den realen) und seine hilflose Liebe zu der schönen und klugen Roxane. All diese Personen kenne ich, manche besser, manche weniger gut. Ich weiß, ob sie mir sympatisch sind, ich weiß genug über sie um mir ausmalen zu können, wie sie in einer bestimmten Situation reagieren würden (außer vielleicht Granny Weatherwax, aber die ist auch ein besonderer Fall). Ich kenne sie als Person, als Gegenüber.
Nun stellt sich die berechtigte Frage: Kenne ich Jesus? Sicher nicht in dem Sinn, in dem ich alle die vorher genannten Personen kenne. Weder bin ich ihm von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden, noch vermag ich aus der Heiligen Schrift und der Überlieferung ein derartiges Persönlichkeitsbild abzuleiten. Wer ist er eigentlich? Der Sohn Gottes! Aha, schön. Sehr hilfreich. Der Messias, der Erlöser! Ja, schon klar, habe ich vom Kindergarten an gehört, glaube ich auch, aber was sagt mir das über ihn als Person? Wenn er mir auf der Straße begegnete, würde ich ihn erkennen? Wenn er mit mir spricht, würde ich überhaupt bemerken, wer er ist? Oder würde mir, wie den Emmausjüngern, erst wenn er das Brot bricht die offensichtliche Wahrheit ins Auge und ins Herz springen?
Es heißt, man soll Gott lieben, mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele, mit all seiner Kraft und all seinen Gedanken. Wie liebt man aber jemanden, den man überhaupt nicht kennt, den man vermutlich nicht erkennen würde, wenn er einen in den Allerwertesten tritt. Es heißt, man kann Jesus in der Eucharistie begegnen. Nun glaube ich tatsächlich an die Realität der Wandlung, ich glaube mit aller Kraft, daß da nicht Brot und Wein mehr vor uns sind, aber ich muss trotzdem fragen: Ernsthaft? Das soll helfen Jesus kennenzulernen? Ich kenne doch jemanden nicht, wenn ich seinen Leib und sein Blut ansehe oder esse. Es heißt, man begegnet Jesus in den Menschen, in den Gliedern seines Leibes, in jedem einzelnen. Nun, dann muss ich blind sein. Ich sehe die Menschen, ich sehe sie miteinander, aber meistens vollauf mit sich selbst beschäftigt. Ich sehe sie dem nächsten Schmarrnphone, den nächsten Musikvideo, der nächsten absurden Freizeitbeschäftigung nachjagen, das nächste lächerliche Werkzeug für diese Beschäftigung kaufen um eine Industriemaschinerie zu füttern bei deren Anblick Aldous Huxley sein Manuskript zu Brave New World als obsolet und überholt vernichten würde. Und ich denke mir: Ernsthaft jetzt, das ist Christus? Aber vielleicht ist die Straße der falsche Ort anzufangen. Vielleicht sucht man besser zuerst zu Hause (nicht bei mir zu Hause sondern im Haus Gottes, in der Kirche). Vielleicht reicht es, wenn ich sage, daß ich mir bei den Menschen da auch schwer tue, sowohl bei den einzelnen als auch in ihrer Gesamtheit. Zum Glück ist die Kirche selbst etwas viel größeres als die Summe ihrer Teile und kann nicht einmal durch uns ruiniert werden, aber der Grund dafür ist bestimmt nicht, daß wir es nicht versuchen. Wenn ich diese Bande an Selbstdarstellern, selbstberufenen Superheiligen, Alles-für-sich-Vereinnehmern, Besserwissern, Streithanseln, Schandmäulern, Cliquenbildnern, Kirchenpolitikern, Intriganten, Machtmenschen und spiritistischen Pseudo-Charismatikern ansehe, dann erkenne ich einzig das Wunder, daß es die Kirche noch immer gibt. Um Irrtümern vorzubeugen: Ich nehme mich da jetzt nicht aus. Ich schwankte selbst irgendwo zwischen hoffnungsvoll selbstberufenen Heiligen und eingebildetem Charismatiker und musste erkennen, daß ich keines von beidem bin. Jetzt bin ich vermutlich am ehesten bei den Besserwissern einzureihen, was auch nicht hilfreich ist, weil ich es einfach nicht besser weiß. Ich habe doch in Wirklichkeit keine Ahnung von irgendwas was mich schon wieder zum Besserwisser macht, weil diese glorreiche Erkenntnis ja so ganz super toll ist. Sicher kann niemand in mir Christus erkennen was aber daran liegt, daß ich Christus nicht kenne. Darauf läuft es letzten Endes immer hinaus. Ich kenne ihn nicht. Ich kann nicht zu jemandem hingehen und mir vornehmen nicht zu wissen außer Christus und zwar als den gekreuzigten, denn dann würde ich überhaupt nichts wissen. Wenn ich aber alles Wissen der Welt und alle Weisheit habe und Christus nicht kenne, dann weiß ich nichts, wenn ich aber nichts weiß außer Christus, dann weiß ich genug. Das ist wahr. Ich spüre in der Tiefe meiner Seele und meines Herzens, daß das wahr ist. Und, daß ich nichts weiß und sicher nicht genug.